Spielend effizienter
© ETH Foundation / Valeriano Di Domenico
Spielend effizienter
Die Pioneer Fellows Stefan Villiger und Reto Togni sind überzeugt, dass Mechanik und Design des Rollstuhls noch nicht zu Ende gedacht sind – der ehemalige Exzellenz-Stipendiat David Mzee ist als Proband und Gesprächspartner Teil ihrer Mission.
Inwiefern könnte der Ansatz von Versive die Revolution des manuellen Rollstuhls einläuten?
STEFAN VILLIGER – Das Herzstück ist ein neues Lenksystem: eine intuitive Steuerung über den Rumpf, möglich dank einer speziellen Rückenlehne, die an die Vorderräder gekoppelt ist. Rumpfbewegungen werden in Lenkbewegungen übersetzt: aufrecht sitzen bedeutet geradeaus fahren, nach rechts lehnen bedeutet nach rechts fahren. Die herkömmliche Konstruktion manueller Rollstühle mit frei beweglichen Vorderrädern erfordert meist Anschieben und gleichzeitiges Bremsen, um zu steuern. Das ist äusserst ineffizient. Ausserdem brauchen Rollstuhlfahrende so ständig beide Hände.
RETO TOGNI – Im Rahmen meines Doktorats absolvierten Probanden einen Parcours, mit Kurven und Neigungen wie bei Trottoirs. Auf diesem Parcours verwendeten sie, wenn sie auf herkömmliche Weise lenkten, ein Drittel ihrer Energie, um zu bremsen! Richtungskontrolle kostet aber gleich doppelt: einmal beim Bremsen, um zu steuern, ein zweites Mal, um die verlorene Energie auszugleichen und wieder zu beschleunigen. Unser Rollstuhl lässt sich ohne Bremsen steuern. Deshalb geht es mit ihm bedeutend schneller vorwärts, eine Hand bleibt frei und die ansonsten sehr belasteten Schultern werden geschont.
David, wie beurteilst Du, als Bewegungswissenschaftler, Rollstuhlfahrer und Proband erster Stunde, diese Innovation?
DAVID MZEE – Wenn du jeden Tag im Rollstuhl unterwegs bist, merkst du, dass das Mühsamste, ausser Treppen, Trottoirs sind. Jedes Trottoir ist abfallend, weshalb es den Rollstuhl Richtung Strasse zieht, wogegen du permanent arbeitest. Das checkt leider fast niemand. Wenn du draussen unterwegs bist, macht es dich einfach wütend, dass du so viel Energie verschwenden und deine Gelenke unnötig belasten musst. Als hier im Quartier die Strasse, die ich am meisten benutze, neu geteert wurde, dachte ich daran, die Stadt zu fragen, ob sie die Strasse nicht ein bisschen weniger abfallend machen könnte. Aber eigentlich wusste ich «it’s never gonna happen». Also muss sich die Lösung am Rollstuhl finden. Dieser Stuhl löst eines der grössten Probleme, das Rollstuhlfahrende im Alltag haben, das war mir schon nach ersten Tests klar. Damals fuhr er sich noch nicht so geschmeidig und wies weitere Probleme auf. Mit meinem wissenschaftlichen Background, meiner technischen Affinität und als Betroffener kann ich das Projekt mit meinen Inputs voranbringen. Schon auf dem jetzigen Stand bietet Versive eine coole Bewegungserfahrung, die sehr spielerisch ist.
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«Dieser Stuhl löst eines der grössten Alltagsprobleme von Rollstuhlfahrenden.»
Wie seid ihr dazu gekommen, einen besseren Rollstuhl entwickeln zu wollen?
RT – Während meines Industriedesignstudiums an der Zürcher Hochschule der Künste gab es einen Mitstudenten, der Paraplegiker ist. Er hat mich auf das erwähnte Trottoirproblem aufmerksam gemacht. Bei ihm habe ich auch beobachtet, wie schwierig es ist, ohne freie Hand einen Kaffee von A nach B zu transportieren. Er musste ihn jeweils zwischen den Beinen einklemmen. Angeregt davon entwickelte ich eine neuartige Rollstuhllenkung, als ich am Royal College of Art und am Imperial College in London einen Master in Innovation Design Engineering absolvierte. Daraus wurde ein Forschungsprojekt am Laboratory for Movement Biomechanics der ETH Zürich, mein Doktorat.
Stefan, Du bist Maschinenbauingenieur, wie bist Du zum Projekt gestossen?
SV – Ich hörte an der ETH einer Präsentation von Reto zu. Als ich ein Thema für meine Master-Arbeit suchte, meldete ich mich bei ihm. Ich hege eine Vorliebe für elegante mechanische Lösungen, die durch Einfachheit bestechen. Diese zahlen sich sowohl funktional als auch kostenmässig aus. An der Zusammenarbeit mit Reto gefällt mir, dass wir beide den Anspruch haben, die immer noch bessere Lösung zu finden, und uns diesbezüglich auch gegenseitig anspornen.
Nun seid ihr ETH Pioneer Fellows, mit dem Ziel, das Projekt auf den Markt zu bringen – welche zusätzlichen Herausforderungen stellen sich?
RT – Wir müssen in der jetzigen Phase Entscheidungsträgerinnen davon überzeugen, diesen Rollstuhl in das staatlich finanzierte Rollstuhlversorgungssystem aufzunehmen. Wir begegnen viel Skepsis: «Die Rumpfmuskulatur dieser Menschen ist betroffen, weshalb sollten sie also damit lenken können?», so in etwa der Tenor. Unsere Tests zeigen aber, dass diese Lenkung teilweise sogar bei Tetraplegikern funktioniert. Einer unserer grössten Fürsprecher ist ab C5/6 gelähmt, also ab relativ weit oben. Es gibt limitierende Faktoren, aber die sind eher koordinativer oder psychologischer Natur. Eine unserer Probandinnen fährt diesen Rollstuhl nun seit einem halben Jahr, obwohl es erst einen Prototyp gibt. Sie sagt, ihren alten Rollstuhl fasse sie gar nicht mehr an. Das ist für einen ersten Prototyp schon ein erstaunlicher Erfolg. Wir sind sehr dankbar, dass uns das Pioneer Fellowship die Zeit schenkt, einerseits den Rollstuhl vor der Kommerzialisierung zu optimieren und andererseits mit Stellen wie der IV grundlegende Fragen rund um den Markteintritt zu klären.
Wie gross ist der Markt für diesen Rollstuhl?
SV – In kühnen Momenten denken wir, dass dies der neue Industriestandard werden kann. Denn es ist in unseren Augen einfach das bessere Produkt.
DM – Man kann diesen Rollstuhl ja zu einem normalen Rollstuhl umstellen. Also ist die neue Lenkung im Minimum ein cooles Supplement, das gewissen Leuten sehr viel bringt. Hinzu kommen positive Aspekte wie Druckentlastung für das Gesäss in Folge der Gewichtsverlagerungen. Wie erfolgreich der Stuhl schlussendlich werden wird, hängt auch von Faktoren wie seinem Endgewicht oder dem Preis ab.
RT – Der Kostentreiber im Rollstuhlbau ist die Individualisierung. Auch diese wollen wir digital neu denken. Der 3D-Druck eröffnet beträchtliche Einsparmöglichkeiten.
David, Du tüftelst auch selbst an Hilfsmitteln herum, was beschäftigt Dich aktuell?
DM – Nachdem ich als einer der ersten Tetraplegiker weltweit eine Möglichkeit gefunden habe, zu wakeboarden und zu kiten, entwickle ich gerade einen Sitz, um ein weiteres Novum zu erreichen: Wakefoilen. Ich habe diese Sportarten vor meinem Unfall nicht ausgeübt und es kann mir niemand vorzeigen, wie ich sie heute betreiben soll, weil ich der erste Tetraplegiker sein dürfte, der es versucht. Sobald ich die Zeit finde, will ich auf meinem Instagram-Kanal Interessierte an meiner Journey teilhaben lassen.