«Was Menschen mit Behinderungen hilft, hilft allen»
Der Dialog über Projekte verbindet sie seit Jahren: den Architekten und Zürcher Gemeinderat Joe A. Manser und den ETH-Professor Robert Riener. Aktueller Gesprächsanlass: die Reha-Initiative.
Die Reha-Initiative ist ein ambitioniertes Grossprojekt, das in den kommenden Jahren beträchtliche Ressourcen binden wird – wieso ist sie eines der dringlichsten Vorhaben der ETH Zürich?
Joe A. Manser – Vor 50 Jahren betraten die ersten Menschen den Mond. Was Menschen mit Behinderungen brauchen, sind gemessen an einer Mondmission Peanuts. Weil man ihre Bedürfnisse lange Zeit vernachlässigt hat, gibt es hier jedoch einen grossen Nachholbedarf. Was Menschen mit Behinderungen hilft, hilft zudem oft allen. Beispiel Niederflurtrams: Diese helfen auch dem Vater mit Kinderwagen oder der älteren Dame mit Rollator. Und weil alle schneller ein- und aussteigen, spart die VBZ einen Tramzug pro Linie ein.
Robert Riener – Der Informationsaustausch zwischen den am Reha-Prozess beteiligten Menschen findet heute so gut wie gar nicht statt – das muss sich ändern, damit die Rehabilitation
effektiver wird! Zudem sind viele Aspekte zu wenig erforscht: Was bringen Therapieroboter dem Gesundheitssystem? Was bringen Assistenzgeräte der Volkswirtschaft? Wie kann man individuelle Bedürfnisse besser abholen und die Akzeptanz für Technologie erhöhen? Es geht um solche interdisziplinären Zusammenhänge. Die Reha-Initiative hat zudem Berührungspunkte mit anderen Initiativen der ETH, beispielsweise mit der Mobilitätsinitiative: Besondere Bedürfnisse können nicht einfach ausgeblendet werden, wenn es darum geht, Menschen auf intelligente Weise von A nach B zu transportieren, wie Joe am Beispiel der Niederflurtrams ausgeführt hat.
Welche Rolle kommt der ETH Zürich zu, wenn es darum geht, mehr Lebensqualität und Inklusion für Menschen mit Behinderungen zu schaffen?
Robert Riener – Wir müssen Forschung fördern, die Diversität berücksichtigt. Die ETH kann massgeblich dazu beitragen, dass Technik, die im Labor funktioniert, im Alltag tatsächlich für alle anwendbar und bezahlbar und zudem gesellschaftlich akzeptiert wird.
Joe A. Manser – Die humanistische Frage sollte sich für eine ETH immer stellen: Was bringt die Technik den Menschen? Und zwar allen Menschen. Historisch gesehen waren viele Innovationen, die Menschen mit Behinderungen den Alltag erleichtern, das Ergebnis erfolgreicher Lobbyarbeit von Kriegsveteranen, die bessere Hilfsmittel benötigten. Die ETH hat die Chance, auf diesem Gebiet unabhängig von solchen Hintergründen voranzugehen. Mein Eindruck ist, dass die
Reha-Initiative für die Forscherinnen und Forscher eine hochinteressante Spielwiese bietet, mit «Kollateralnutzen» für Menschen mit Behinderungen.
Robert Riener, Sie haben den CYBATHLON ins Leben gerufen, einen Wettkampf, bei dem Menschen mit Behinderungen unterstützt von modernster Assistenztechnik gegeneinander antreten. Sie, Joe Manser, beraten den CYBATHLON seit der ersten Durchführung 2016 in strategischen Fragen – was sind Learnings aus diesem Projekt, die in die Reha-Initiative einfliessen?
Joe A. Manser – Der CYBATHLON wurde zu einem Erfolg, weil Menschen mit Behinderungen und die entsprechenden Organisationen von Anfang an einbezogen wurden: «Nothing about us without us!» Für die Reha-Initiative muss diese
Zusammenarbeit intensiviert werden. Ein Forscher kann sich noch so gut einlesen, gewisse Dinge sind nur über die eigene Erfahrung zugänglich, beispielsweise, dass es für einen Menschen mit Behinderung schlicht beängstigend sein kann, auf Raupen Treppen zu steigen.
Robert Riener – Wenn der CYBATHLON eines gezeigt hat, dann, dass wir Plattformen schaffen müssen, damit Nutzer, Forscherinnen, Entwickler und weitere relevante Gruppen sich begegnen und enger zusammenarbeiten. Daher haben wir das Ziel, im Rahmen der Reha-Initiative ein interdisziplinäres Rehabilitationszentrum zu schaffen. Nicht jede neue Idee wird zum Erfolg führen. Aber mehr Ideen bedeuten prinzipiell mehr erfolgreiche Ideen. Mit dem CYBATHLON ist es gelungen, Themen für die Forschung «sexy» zu machen, die zuvor nicht «in» waren, und neue Gruppen aus Forschung und Gesellschaft an Themen wie Rehabilitationstechnik oder Barrierefreiheit heranzuführen. Diese Bewegung soll mit Projekten wie CYBATHLON @school und der Reha-Initiative weitergehen. Die Technik soll so gut werden, dass man sie nicht mehr bemerkt, und der Gesinnungswandel in der Gesellschaft so umfassend, dass wir nicht mehr über Behinderte und Nicht-Behinderte, sondern über menschliche Vielfalt sprechen.
Joe A. Manser – Die Menschen werden immer unterschiedlich sein. Aber wenn es für diejenigen Unterschiede, die Menschen behindern, technische Lösungen gibt, sollten wir diese Lösungen allen zugänglich machen.