«Zwei Welten wieder verbinden»
«Zwei Welten wieder verbinden»
Der langjährige Schweizer Bundeskanzler Walter Thurnherr unterstützt neu den Aufbau der School of Public Policy der ETH und trägt in seiner Funktion zu einem besseren Verständnis zwischen Wissenschaft und Politik bei.
Nach acht Jahren als Bundeskanzler haben Sie an der ETH Zürich erneut eine grosse Herausforderung angenommen – weshalb?
WALTER THURNHERR – Die ETH ist im Herbst letzten Jahres an mich herangetreten. Ich habe mir das Angebot gut überlegt und schliesslich gerne zugesagt, da die ETH ein Anliegen verfolgt, das mir immer wichtiger scheint, nämlich die Verbesserung des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Politik.
Was ist die School of Public Policy, und weshalb will die ETH diese bis 2025 aufbauen?
Die ETH School of Public Policy soll dazu beitragen, zwei Welten wieder verstärkt miteinander zu verbinden, die sich in den letzten Jahrzehnten auseinanderbewegt haben. Die Wissenschaft hier und die Politik dort, das ist keine gute Ausgangslage, wenn man die Herausforderungen der Gegenwart angehen will. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um ein neues, interdepartementales Zentrum, das die politikrelevante Forschung an der Hochschule bündeln, den Austausch Forschender mit politischen Entscheidungsträgern intensivieren und die Aus- und Weiterbildung im Bereich Politikanalyse fördern soll.
«Die Politiker sind nämlich nicht immer begriffsstutzig, nur weil sie eine andere Güterabwägung vornehmen.»
Was braucht es von beiden Seiten, damit der Austausch gelingen kann?
Es braucht bestimmt mehr Verständnis für die andere Perspektive und eine Bereitschaft zu lernen. Die Politiker sind nämlich nicht immer begriffsstutzig, nur weil sie eine andere Güterabwägung vornehmen. Und die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind nicht alle naiv, nur weil sie die Politmechanik von Bern nicht beherrschen. Meines Erachtens braucht es wesentlich mehr Austausch, und zwar nicht nur in der Krise oder am Rand von Preisverleihungen, bei denen sich alle beglückwünschen. Und auch nicht nur Austausch, weil es angeblich schön ist, sich zu begegnen, sondern Austausch, weil alle davon profitieren. Wir leben in einer Welt, in der niemand mehr die Dinge versteht, die er im Alltag ständig anfasst. Und gleichzeitig versuchen wir, diese neuen Technologien vernünftig zu regulieren. Wer reguliert, sollte jedoch möglichst gut verstehen, was er genau reguliert und welche Konsequenzen es hat, wenn er so und nicht anders reguliert, und was passieren könnte, wenn er nicht reguliert. Um mit solchen Herausforderungen umzugehen, braucht es interdisziplinäre Sichtweisen, wie sie die ETH School of Public Policy ermöglichen wird.
Können Sie einige konkrete Felder nennen, in denen der angesprochene Dialog in naher Zukunft besonders relevant sein wird?
Nehmen Sie die künstliche Intelligenz. Da kann man zu früh einschreiten, alles verbieten und dabei unerhörte Möglichkeiten, namentlich auf dem Gebiet der Medizin, der Materialwissenschaften oder der Cybersicherheit verpassen. Oder man kann zu spät einschreiten und wird dann mit Konsequenzen leben müssen, die überhaupt nicht beabsichtigt waren. Einmal abgesehen davon, dass diese Diskussion international stattfinden muss: Wie wollen Sie das vernünftig abschätzen, wenn Sie nicht den Austausch mit der Wissenschaft suchen? Und dasselbe gilt für die Gentechnologie, die Biodiversität, für Quantum Computing und für viele andere Bereiche.
Die ETH ist eine Hochschule des Bundes – wird sich die School of Public Policy also vor allem mit nationalen Fragen beschäftigen?
Die nationale Ebene ist bestimmt wichtig. Es geht aber auch darum, die nationalen Ansprechpartner in die Lage zu versetzen, im Rahmen der internationalen Regulierung bestmöglich eine schweizerische Haltung zu formulieren und zu vertreten. Viele neuere Technologien werden multilateral reguliert werden, etwa im Rahmen der Vereinten Nationen oder der EU. Meine Erfahrung ist: Die Schweiz hat nicht unbedingt Mühe, gehört zu werden. Aber sie muss gute Vorschläge machen können. Und da kann die Wissenschaft helfen. Im Übrigen kann ich mir auch vorstellen, dass zum Beispiel ein Kanton oder eine Stadt auf die ETH zukommt, weil deren Behörden verstehen wollen, worum es eigentlich geht, wenn sie mit einer bestimmten Technologie konfrontiert sind und in diesem Zusammenhang einen politischen Entscheid fällen müssen. An der ETH gibt es so viel Know-how und weltweit führende Forschende – warum nicht von diesem Wissen Gebrauch machen und anrufen?
Die School of Public Policy ermöglicht Privatpersonen und Stiftungen, sich als Donator für wirkungsvolle Brücken zwischen Wissenschaft und Politik zu engagieren – was können interessierte Partner konkret fördern?
Neben dem Aufbau der erwähnten Brücken in Gestalt informeller und formeller Dialogformate geht es um interdisziplinäre, problemorientierte Forschungsprojekte, die von assoziierten Professuren durchgeführt werden. Zudem wollen wir Nachwuchsforschenden die Möglichkeit bieten, während einer bestimmten Zeit angewandte Forschungsarbeit an der Schnittstelle zur Politik zu machen. Längerfristig sind zudem zwei neue Professuren jeweils an der Schnittstelle von Politik und Public Health beziehungsweise Digitalisierung geplant. Die Förderung der School of Public Policy ist eine Möglichkeit für all diejenigen gesellschaftlichen Akteure, denen evidenzbasierte politische Entscheidungen am Herzen liegen und die die Gesellschaft in diesem Sinne mitgestalten möchten. Ich freue mich darauf, mit allen zu sprechen, die ein solches Engagement prüfen.
Zur Person
Walter Thurnherr studierte an der ETH Zürich Theoretische Physik. Nach Stationen als Diplomat im In- und Ausland war er Generalsekretär des Aussen- und des Volkswirtschaftsdepartements sowie des Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation. 2015 folgte die Wahl zum Bundeskanzler der Schweiz – ein Amt, das Thurnherr bis 2023 ausübte. Seit Oktober 2024 unterstützt er als Professor of Practice an der ETH den Aufbau der School of Public Policy.