Ein Leben zwischen Malerei, Experimentierfreude und Pioniergeist

2. November 2021

Zwei Leidenschaften trieben Karl Tanner zeitlebens an: die Malerei und das Experimentieren im Labor. Nach einem Chemiestudium an der ETH, entwickelte er viele Jahre lang innovative Kunststoffe. Seine lebenslange Verbundenheit mit der Hochschule hat seine Tochter Christine Tanner dazu bewegt, mit ihrem Legat zu Ehren ihres Vaters die ETH Zürich Foundation zu berücksichtigen.

Als Junge zauderte Karl Tanner lange, sich für eine berufliche Zukunft zu entscheiden. In seiner Brust pochten nämlich zwei Herzen: Das eine schlug für die Malerei, welcher er bereits im Kindesalter verfallen war und die durch seinen Onkel, den Kunstmaler Paul Tanner, und seinen Zeichnungslehrer gefördert wurde. Letzterer riet ihm kurz vor Schulende sogar eine Laufbahn als Künstler einzuschlagen. Das andere Herz schlug für die Naturwissenschaften. Am Gymnasium hatte er durch sein Flair für die Mathematik auf sich aufmerksam gemacht. Was sollte er also tun? Er folgte schliesslich dem Rat des Vaters, dem die Vorstellung lieber war, dass sein Sohn Wissenschaftler würde und somit einen «soliden Beruf» erlernte.

Malbegeisterte Freunde in der Verbindung

Nach mehreren Schnupper-Vorlesungen, entschied sich Karl Tanner 1929 für ein Chemiestudium an der ETH Zürich. Hier witterte er innerhalb der Naturwissenschaften die grössten Freiheiten für seine blühende Fantasie. Seinem Diplom liess er an der Abteilung für technische Chemie ein Doktorat folgen. Er war kein Musterstudent: Immer wieder kam ihm die Malerei in die Quere und es brauchte gelegentlich die Ermahnung des Vaters, damit er sich wieder hinter die Bücher setzte. Die Ablenkung wurde zusätzlich gefördert, als er in die Studentenverbindung «Carolingia Turicensis» eintrat,wo er neue, malverrückte Kollegen kennenlernte; darunter Konrad Escher, Dozent für Kunstgeschichte an der Universität Zürich, mit dem ihn fortan eine enge Freundschaft verbinden würde.

Seine zweite Leidenschaft, die Freude am Experimentieren im Labor, entfaltete sich erst vollumfänglich, als Karl Tanner 1938 seine erste Stelle als Chemiker bei den Schweizerischen Draht- und Gummiwerken in Altdorf antrat. Er war massgeblich an der Erfindung von neuen Kunstharzanwendungen und neuen Isolierungen beteiligt. Unter anderem entwickelte er ein synthetisches Leder auf der Basis von PVC. Mit den Kunststoffen hatte er seine Spezialisierung gefunden, der er sich in seiner Forschungstätigkeit ein Leben lang widmen wird. Mehr als 20 Jahre war er als Fachredaktor für Kunststoffe bei der Zeitschrift «Technische Rundschau» tätig. Auch als Gerichtsgutachter und Industrieberater wurde er aufgrund seines Spezialwissens später oft engagiert. Bei den Draht- und Gummiwerken sah er bald keine Entwicklungsmöglichkeiten mehr. 1944 wechselte er deshalb in die Färberei Schlieren. Doch auch dort schränkten die ökonomischen Zwänge seine Forschungsfreiheit zunehmend ein. Davon befreit wurde er schliesslich 1956 durch eine Berufung ans Technikum Winterthur zum Professor für technische Chemie. Neben seiner Lehrtätigkeit fand er hier wieder genügend Freiraum, um seiner Experimentierfreude und Forscherneugier nachzugehen.

Karl Tanners Tochter Christine wird sich später daran erinnern, wie der Vater gelegentlich mit einem russigschwarzen Kopf vom «Tech» nach Hause kam, wenn es im Labor wieder Mal «klöpft hät». Eine Verletzung trug er zum Glück nie davon. Seine Experimente blieben aber nicht aufs Tech beschränkt: Im Familienhaus am Zürisee richtete sich Tanner im Keller ein Privatlabor ein. Hier ging er zum Beispiel der Erkenntnis nach, dass er nach einem halben Dutzend Bienenstichen am Arm etwas Linderung vom Rheuma verspürte. Liesse sich also nicht vielleicht aus Bienengift ein Rheuma Heilmittel entwickeln? Oder er machte sich einen Spass daraus die Antifalten-Crème seiner Frau zu analysieren, um zum Schluss zu gelangen, dass sie genauso gut Pflanzenöl einreiben könne – chemisch gäbe es nämlich kaum Unterschiede. Über die Zeit entstanden auch wegweisende Erfindungen, wie zum Beispiel erste Vorläufer einer weichen, Kunststoffbasierten Kontaktlinse. Oder zusammen mit dem Zahntechniker Horst Lustenberger ein fortschrittliches Zahnimplantat.

 

Beides liess Karl Tanner nie patentieren, obwohl der Nachbar ein Patentanwalt gewesen wäre. Doch ihn graute davor, sich durch Bürokratie aufhalten zu lassen. Tanner wollte weiterforschen und immer wieder zu neuen Ufern aufbrechen.

Begeisterungsfähig, humorvoll und hilfsbereit

Ihr Vater habe sich für fast alles interessiert, erinnert sich seine Tochter Christine. Als sie noch ein Kind war, hat sie der Vater im Italienurlaub jeweils mit auf Entdeckungsreisen in die Natur oder aufs Hausdach mitgenommen. Dort hat er sie dann mit seiner eigenen Begeisterung zum Staunen gebracht. Unternehmenslustig sei er gewesen und hilfsbereit.

Immer da, wenn ihn die Familie oder Freunde brauchten. Zudem machte ihn sein Humor zu einem beliebten Gesprächspartner. Christine Tanner erinnert sich auch an manche Verrücktheiten, wie damals, als der Vater während des Militärdienstes als Offizier auf seinem Ross der Mutter im ersten Stock des Familienhauses einen Besuch abstattete.

Trotz Karl Tanners Omni-Begeisterung; etwas konnte er nicht ausstehen: den Schweizer Winter. Deshalb sorgte er frühzeitig vor und stellte sicher, dass er diesem zumindest nach seiner Pensionierung jeweils für längere Zeit entfliehen könnte. Die Familie prüfte Möglichkeiten in Frankreich und im Veltlin, wurde dann aber schliesslich im toskanischen Castellina in Chianti fündig, in einem beinahe 200 Jahre alten Bauernhaus ohne Elektrizität und Wasser. Tochter Christine, damals gerade am Abschluss ihres Architekturstudiums am Abendtechnikum in Zürich, inspizierte die Ruine und zeichnete den Winter hindurch von Zürich aus die Renovationspläne. Das Haus wurde zu einem Familienprojekt. Als es fertig war, diente es Karl Tanner nach seiner Pensionierung von 1974 als liebsten Rückzugsort, wenn es in der Schweiz kühl wurde und er Zeit und Musse zum Malen suchte.

Sowieso nahm die Bedeutung der Malerei in Karl Tanners Leben nach der Pensionierung wieder stark zu. Doch erst 1987 konnte ihn Christine Tanner dazu bewegen, seine Werke erstmals öffentlich auszustellen. Am schnellsten war «Die Schöpfung» verkauft: Eine Leinwand, die er mit seinem eigenhändig entwickelten Kunstleder bezog, und mit selbst produzierten Farben bemalte. Pioniergeist in der Chemie traf dabei auf Eine eigenhändig entwickelte Leinwand und selbst produzierte Farben: Pioniergeist in der Chemie traf bei Tanner auf künstlerische Kreativität. Karl Tanner hatte einen Weg gefunden, um seine beiden Herzen in der Kunst zu vereinen. Es war die erste einer ganzen Reihe weiterer erfolgreicher Ausstellungen bis zu seinem Tod im Jahr 1998.

Karl Tanner hatte sich bereits zu Lebzeiten darum bemüht, dass sein Nachlass den technischen Wissenschaften zugute kommt. Zum vollständigen Abschluss der mit einem Notar aufgesetzten Dokumente kam es jedoch nie. Tochter Christine hat den Willen ihres Vaters deshalb nach seinem Tod umgesetzt, indem sie die Häuser am Zürisee und in Castellina in Chianti in Form eines Legats an die ETH Zürich Foundation überschrieb. «Es ist für Nachkommen belastend, nicht genau zu wissen, welchem Zweck die Eltern ihren Nachlass zur Verfügung stellen wollten», sagt Christine Tanner. Sie sei deshalb dankbar, dass der Vater ihr den Weg diesbezüglich schon zu Lebzeiten gewiesen habe. «Mit dem Legat ist mir ein Stein vom Herzen gefallen», sagt sie. «Es ist ein gutes Gefühl, zu wissen, dass der Nachlass meines Vaters in vertrauensvolle Hände übergeht, wenn ich mal nicht mehr da bin.»