Ihr Algorithmus hilft cerebral gelähmten Kindern
Zusammen mit Klinikern forscht ETH-Doktorandin Rosa Visscher an einer besseren Behandlung für junge Patienten mit cerebralen Bewegungsbehinderungen. Ihr Trumpf: Datenwissenschaft.
«Der menschliche Gang scheint so etwas Einfaches zu sein. Doch versuche mal, einem Roboter das Gehen beizubringen – eine unendlich komplexe Aufgabe!» Die 23-jährige Niederländerin Rosa Visscher packte die Faszination für ihr heutiges Forschungsgebiet bereits in der Mittelschule, als sie im Rahmen von universitären Kursen zur Begabtenförderung einen Bewegungswissenschaftler kennenlernte. Ihren Bachelor in Human Movement Sciences erwarb sie an der Rijksuniversiteit Groningen, dank einem Exzellenz-Stipendium der ETH Foundation kam sie für das Master-Studium an die ETH Zürich. Schnell hat sie gemerkt: «Hier kann ich grösser denken!»
In ihrer von der Ralf-Loddenkemper-Stiftung geförderten Doktorarbeit bei Prof. Dr. William R. Taylor am Institut für Biomechanik und Prof. Dr. Reinald Brunner vom Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB) beschäftigt sie sich mit cerebral gelähmten Kindern. Sie profitiert nicht nur davon, dass an der ETH alle für ihr Forschungsgebiet relevanten Disziplinen vertreten sind, sondern auch von den spezialisierten Kliniken in der Schweiz. Die junge Forscherin arbeitet eng mit dem Ganglabor des UKBB zusammen. Über 20 Jahre Ganganalysen brachten Daten von gegen 2000 Kindern.
Entscheidungshilfe für Kliniker
«Für die Ärztinnen und Ärzte ist es momentan sehr schwierig abzuschätzen, welche Eingriffe und Therapien bei welchem Kind optimale Ergebnisse bringen», erklärt Rosa Visscher. Cerebrale Bewegungsbehinderungen treten in verschiedenen Ausprägungen auf, und die Behandlungsmöglichkeiten reichen von Ergotherapie über das Tragen orthopädischer Geräte bis hin zu Operationen. Wie ein bestimmtes Kind auf eine spezifische Behandlung reagiert, ist von so vielen Faktoren abhängig, dass maschinelles Lernen der Aufgabe, den Behandlungserfolg vorherzusagen, eher gewachsen scheint. Mithilfe anonymisierter Datensätze trainiert Rosa Visscher einen Algorithmus, damit dieser Ärztinnen und Ärzte eines Tages bei der Entscheidungsfindung unterstützen kann.
Schon beim jetzigen Stand ihres Projekts kann Rosa Visscher gewisse Trends erkennen. Beispielsweise zeichnet sich ab, welche Gangmerkmale Kinder aufweisen, die nicht vom Tragen orthopädischer Geräte profitieren – eine wichtige Erkenntnis, tragen Kinder diese doch sehr ungern. Operationen wiederum ziehen für die Kinder häufig grosse Schmerzen nach sich. Rosa Visschers Forschung soll eines Tages ermöglichen, dass sich ein Kind, seine Eltern und die Ärzte mithilfe von personalisierten Visualisierungen ein ganz konkretes Bild davon machen können, wie der Gang dieses Kindes vor und nach einem fraglichen Eingriff aussehen wird: «Wir wollen weniger Behandlungen, die wenig bringen. Wir wollen, dass die Kinder weniger Zeit im Spital verbringen müssen. Und wir wollen maximale Mobilität für die Patienten.»
Dialog ist zentral
Der Weg dahin ist anspruchsvoll. Rosa Visscher weiss, wie viel es braucht, damit wissenschaftliche Forschung wie die ihre im Klinikalltag eingesetzt werden kann: «Ich verbringe seit dem Beginn meines Master-Studiums zwei Tage pro Woche in der Klinik. Nur so ist es möglich, die Daten in der Tiefe zu verstehen.» Das gegenseitige Verständnis zwischen den Klinikern und ihr wachse von Monat zu Monat und auch der Respekt. «Als ich in der Klinik in einer fachlichen Frage zum ersten Mal nach meiner Meinung gefragt wurde, war das ein grossartiger Moment!»