Die Datenjägerin

3. Juni 2020

Die Forschung von ETH-Professorin Tanja Stadler hat das Potenzial, wichtige Informationen zu liefern, um künftige Epidemien im Keim zu ersticken. Entscheidend ist, wie schnell sie an gute Daten kommt.

ETH Zürich Foundation, Die Datenjägerin
© ETH Zurich / Yves Bachmann
© ETH Zurich / Yves Bachmann

Sie sind ursprünglich Mathematikerin – als Biostatistikerin verfolgen Sie heute Epidemien, indem Sie genetische Daten eines Virus verschiedener Patienten vergleichen. Wie ist das möglich?

TANJA STADLER – Auch Viren sind der Evolution unterworfen, das heisst, sie verändern sich kontinuierlich. Diese Veränderungen erlauben es, Abstammungsverhältnisse zu rekonstruieren und die Verbreitung eines Virus beinahe in Echtzeit geografisch nachzuzeichnen.

Können Sie mit Blick auf die Coronapandemie erläutern, was wir auf diese Weise erfahren?

TANJA STADLER – Sobald wir wieder vermehrt reisen, stellen sich Fragen wie: Wie viele erkrankte Personen einer Region haben sich innerhalb dieser Region angesteckt und wie viele haben sich anderswo infiziert? Erkenntnisse dazu können das Nachverfolgen von Infizierten und ihren Kontaktpersonen ergänzen und den Behörden helfen, gesundheitspolitische Massnahmen gegebenenfalls anzupassen. Ein grosser Vorteil unserer Methode ist auch, dass wir die Dunkelziffer einer Epidemie errechnen können – immer unter der Voraussetzung, dass wir genug Virusproben haben. Um die Situation in der Schweiz einschätzen zu können, arbeiten wir mit einem Labordiagnostikunternehmen zusammen, das uns alle untersuchten Proben von Sars-CoV-2 anonymisiert zur Verfügung stellt.

In Ihrer Gruppe arbeiten zu je einem Drittel Forschende aus der Mathematik, der Informatik und der Biologie – wie spielen diese Disziplinen zusammen?

TANJA STADLER – Man kann sich das als Kreislauf vorstellen: Die Mathematikerinnen und Mathematiker entwickeln Modelle, die statistische Schätzungen ermöglichen. Die Forschenden aus der Informatik kommen ins Spiel, weil wir mit sehr grossen Datensätzen operieren. Wir benötigen also gute Algorithmen. Die Biologinnen und Biologen interpretieren dann die geschätzten Ergebnisse und spielen Feedback an die Forschenden aus der Mathematik zurück, damit diese ihre Modelle verfeinern können. Wir befassen uns auch damit, wie man neue Typen von Daten verarbeiten und verbinden kann, beispielsweise eben epidemiologische und genomische.

Neben der Forschung sind Sie auch in der Lehre tätig – was sind Ihre Erfahrungen mit dem Umstellen auf digitalen Unterricht?

TANJA STADLER – Es funktioniert erstaunlich gut. Ich freue mich dennoch sehr darauf, wieder vor den Studierenden zu stehen. Wenn ich eine Gruppe von 70 bis 80 Studierenden online unterrichte, kann ich in einem Tool wie Zoom nicht alle Gesichter auf einmal sehen. Und wenn das Feedback über Gesicht und Körpersprache fehlt, ist es schwieriger zu spüren, wo es mit dem Verständnis hapert.

Haben Sie den Eindruck, dass die Stimme der Wissenschaft in der Gesellschaft in den vergangenen Monaten an Gewicht gewonnen hat?

TANJA STADLER – Ich glaube, dass heute mehr Menschen nachvollziehen können, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Dinge tun, die eine tagesaktuelle Bedeutung haben können. Meine Hoffnung ist, dass durch die Pandemie mehr Menschen Einblick erhalten haben, wie Wissenschaft funktioniert und wie wir zu unseren Einsichten kommen – und dass faktenbasierten Argumenten künftig mehr Gehör geschenkt wird.

Was braucht es, um zukünftige Pandemien zu verhindern?

TANJA STADLER – Zentral ist eine sehr schnelle, standardisierte und transparente Datenerhebung weltweit, sodass wir sofort sehen, wenn sich irgendwo etwas zusammenbraut. Es gilt der alte Grundsatz: If you can’t measure it, you can’t manage it. Deshalb ist es auf diesem Gebiet so wichtig, die Digitalisierung voranzutreiben und geeignete Strukturen aufzubauen, immer unter Wahrung der Privatsphäre. Wir müssen zu einem frühen Zeitpunkt intervenieren können, bevor eine Epidemie zu einem globalen Problem wird. Meine Vision ist, dass künftig buchstäblich über Nacht ein detaillierter Einblick in die beginnende Ausbreitung einer Epidemie möglich wird, indem die beobachteten und erhobenen Daten sofort verfügbar gemacht werden.

ETH Zürich Foundation, Die Datenjägerin

Um zukünftige Pandemien zu verhindern, ist eine sehr schnelle, standardisierte und transparente Datenerhebung zentral.

Tanja Stadler
Die Biostatistikerin ist in der Nähe von Stuttgart aufgewachsen und hat an der TU München studiert und promoviert. Sie ist heute Professorin für computergestützte Evolution am Departement für Biosysteme der ETH Zürich. Die Forscherin wohnt in Basel und ist Mutter zweier kleiner Töchter. (Bild: ETH Zürich / Gerry Amstutz)